Gestaltungsmerkmale des Studienkurses

Auf der Basis eines idealtypischen Beispiels einer Simulation in acht Phasen und praxeologischen Einblicken in eine weitere Simulation werden im folgenden Kapitel zentrale Gestaltungsmerkmale des Kurses im Sinne handlungsorientierender Prinzipien vorgestellt. Es erfolgen Informationen zur Lerngelegenheit, zum Im Tri-Tandem lehren – Lernen im Wechsel der Rollen und Perspektiven, zur Verknüpfung von universitärem Lern- und schulischem Handlungsfeld, zur Vernetzung der Lehrkräftebildungsphasen mit theologisch-interdisziplinärem Wissen, zum Lernen durch Erfahrung auf neurowissenschaftlicher Basis, zum Forschenden Lernen, zur Verwendung eigener Videos mit wirklichkeitsbasierten Unterrichtssimulationen, zu Freude und Selbstwirksamkeit im ‚fehlerfräuntlichen‘ Unterricht.

Idealtypisches Beispiel einer Simulation in acht Phasen

Wie in medizinischen Simulationen umfassen erlebnisbasierte Simulationen vier Phasen: Pre-Briefing (Vorbesprechung), Briefing (Vorbereitung der Simulation), Simulationsübung und De-Briefing (Nachbesprechung) (vgl. Riegger & Rotthoff 2022). Die Phasen selbst können weiter unterteilt werden.

Vorbereitend auf die professionelle Simulation vergegenwärtigen sich die Expertenlehrkräfte, z. B. anhand von Namenslisten ihrer Schüler:innen, reale Antworten, Reaktionen, Fragen usw. ihrer Lernenden in der schulischen Wirklichkeit bezüglich des zu simulierenden Unterrichts. Diese Erfahrungen der Expertenlehrkräfte werden dann in der Simulation aktualisiert. Das stärkt den schulischen Wirklichkeitsbezug in der universitären Simulation gegen Fake in der Simulation.

(a)  Vor-Besprechung (Pre-briefing): In Heimarbeit wird eigenständig eine 5 bis 10-minütige Unterrichtsszene als Basis für die Simulationsübung vorbereitet. Der Themenrahmen ist vor­gegeben, da die Expertenlehrkräfte dazu bereits mehrfach unterrichtet haben sollten. Die Lehramtsstudierenden können auf von den Dozierenden komprimiertes fachwissenschaft­liches und -didaktisches Wissen über das Studierendenmanagementsystem Digicampus ebenso zugreifen wie auf Lehrmaterialien der Expertenlehrkraft, wobei sie letztere nicht zwingend nutzen müssen. In der Seminarsitzung können noch Klärungen erfolgen.

(b)  Besprechung (Briefing): Sie erfolgt vor dem Hintergrund einer ko-konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Theorie (Dozent) und Praxis (Expertenlehrkraft). Im Medienlabor der Universität Augsburg wird im Simulationsraum das Szenendesign als Grundsituation für die Simulationsübung aufgebaut. Das Modell umfasst folgende Rollen: Lehrkraft und vier Schüler:innen. Dabei simuliert die Expertenlehrkraft die ganze Simulation über einen Schüler bzw. eine Schülerin aus ihrem eigenen Unterricht. Jeweils drei Studierende simulieren rotierend weitere drei Schüler:innen. Alle Studierenden simulieren nacheinander die Lehrkraft.

(c)  Videografierte Simulationsübung (Simulation practice): Hier handeln die Teilnehmenden in der ‚als-ob-Wirklichkeit‘, wobei die Lehramtsstudierenden in den Lehrkräfterollen unter Druck handeln, vergleichbar mit der schulischen Wirklichkeit, obwohl hier keine realen Schülerinnen bzw. Schüler betroffen sind.

Ein Beispiel für Unterrichtsstörungen bzw. -irritationen, die durch religionsbezogene Inhalte ausgelöst werden, zeigt folgende Szene, die im Wintersemester 2019 aufgenommen wurde, und über die Videoplattform Onlinekurslabor passwortgeschützt für die Kursteilnehmenden abrufbar war:

Expertenlehrer in der Schülerrolle liest (aus: Gudrun Pausewang, „Ich gebʼ dir noch eine Chance Gott“, 4. Aufl. Ravensburg 2008): „… Zu seinen Füßen kauern keine toten Seelen.

Mit Blick zum Sitznachbarn (Expertenlehrkraft in der Schülerrolle): „Was ist denn eine tote Seele?“

Student in der Schülerrolle am Tisch davor dreht sich um und antwortet: „Die gibtʼs beim Bäcker.“ [Seele ist der Name eines Weißbrotgebäcks in Süddeutschland.]

Studentin in der Lehrerinnenrolle: „Hier geht es jetzt nicht um Brot, das man beim Bäcker kaufen kann … .“ Alle Schüler lachen.

L: „Nein, es geht …“ L wendet sich lachend von den Schüler:innen ab.

Handlungsdruck und Möglichkeitssinn (vgl. Langenhorst 2018, bes. 71-73) werden in der Nachbesprechung ebenso reflektiert, wie neu entdeckte Handlungsalternativen in Folgesimulationen getestet werden können.

(d)  Videografierte Nachbesprechung (De-briefing): Die Erlebnisse der Simulationsübung werden reflektiert, indem ‚über eigene Erlebnisse‘ und ‚über Erlebnisse anderer‘ (Perspek­tivwechsel) kommuniziert wird. Dies geschieht auf einer pragmatischen Handlungsebene und einer theoretischen fachwissenschaftlich und -didaktischen Ebene, z. B. anhand folgender Impulse:

Kommunikation über eigene Erlebnisse: Teilnehmende erzählen ihr(e) Erlebnis(se). Beispielsweise könnten Rollenfindung, -erwartungen und -erleben mit folgenden Fragen thematisiert werden: „Wie erlebten Sie sich in Ihrer Rolle?“, „Welche Absicht verfolgten Sie während Ihrer Simulation in bestimmten Situationen? Was haben Sie erreicht? Was ist beim Anderen angekommen?“, „Wie gestalteten Sie Ihre Rolle aus? Welche Rollenerwartungen hatten Sie? Erfüllten sich diese Erwartungen?“

Beispiel:

L: „Ich konnte nichts mehr sagen, weil ich auch lachen musste. Ist es nicht unprofessionell, wenn eine Lehrkraft lacht?“

Kommunikation über Erlebnisse anderer mittels eigener Erlebnisse mit Bezug auf wahrgenommene Erlebnisse anderer (Perspektivenwechsel): Beobachtende erzählen eigene Erlebnisse, an die sie beim Wahrnehmen der Erlebnisse anderer erinnert wurden, anhand folgender Impulse: „In welche Verhaltensweise(n) konnten Sie sich hineinversetzen?“ Antwortmöglichkeiten: „Ich konnte mich gut in Handlungsweise 1 hineinversetzten.“ „Ich identifizierte mich mit der Verhaltensweise 2.“, „Ich als Lehrer:in hätte …“. Weitere Impulse: „Mit wem sind Sie in Ihrer Rolle in Beziehung getreten? Wie haben Sie in Ihrer Rolle den anderen in seiner Rolle erlebt?“, „An welche eigenen Erlebnisse erinnerten Sie sich, als Sie die Schilderungen der anderen hörten?“ Antwortmöglichkeit: „Ausgelöst durch das von XY erzählte Erlebnis, fiel mir ein ähnliches, eigenes Erlebnis ein.“

Beispiel:

Student in Schülerrolle: „Ich bemerkte das Lachen überhaupt nicht.“

Jetzt erfolgt die Habitusreflexion in drei Schritten, als:

        pragmatisch-reflexive Reflexion (neue handlungsbezogene Erkenntnisse),

Beispiel:

Expertenlehrkraft: „Ich lache oft zusammen mit meinen Schülerinnen und Schülern. Humor kann so befreiend sein. Lachen nimmt manchmal viel Spannung aus dem teilweise anstrengenden Schulalltag.“

reflexiv-wissenschaftliche Reflexion (neue wissenschaftsbezogene Erkenntnisse bzw. Verortung fachwissen-
schaftlichen und -didaktischen Wissens am Fall),

Beispiel:

Dozent: Um mit dieser inhaltsbezogenen Unterrichtsstörung bzw. -irritation konstruktiv umzugehen, ist wichtig: Das Wissen um das Präkonzept des (störenden) Schülers, denn Seele versteht er als Weißbrotgebäck (PCK). Mit dieser Deutung handelt es sich nicht um eine Provokation! Erklärung: Die historische Herkunft der Verwendung der Bezeichnung Seele für dieses Weißbrotgebäck: im Mittelalter beteten arme Menschen für die Seelen von Adeligen und bekamen dafür als Entlohnung ein Weißbrotgebäck, das später als ‚Seele‘ bezeichnet wurde (CK). Vor diesem Hintergrund kann dann weiter nach der theologischen Bedeutung von Seele gefragt werden.

ggf. professionsbiografisch-reflexive Reflexion (neue biografiebezogene Erkenntnisse).

(e)  Private, digitale Reflexion (Private digital de-briefing): Die videografierten Unterrichtssi­mulationen mit Nachbesprechungen sind ca. eine Woche nach der Aufzeichnung auf der passwortgeschützten Videoplattform Online-Kurslabor des Medienlabors der Universität Augsburg digital zugänglich. Zu Hause sehen sich die Seminarteilnehmenden ihre eigenen Videos an und erproben die vier Schritte der professionellen Unterrichtswahrnehmung: erster Eindruck, Beschreibung, Erklärung und Vorhersage bzw. Konsequenzen (Sherin & van Es 2009). Daran anschließend wählen sie eine Szene aus, die mit ihrem Lerngewinn und möglichen Fragen in der nächsten Sitzung präsentiert wird.

(f)   Erneute Nachbesprechung (De-de-briefing): Die Seminarteilnehmenden stellen die von ihnen ausgewählte Szene und ihre Reflexionen vor, bevor eine abschließende öffentliche Nachbesprechung der letzten Sitzung zur Professionalisierung von Lehrkräften erfolgt und neue Simulationen vorbereitet werden.

(g)  Eine Evaluation schließt das Vorgehen ab: Prüfbare Erhebung von Wert und Wirkungen der Planung, Durchführung, Ergebnisse und Wirkungen der Simulationen als subjektive Einschätzungen der Studierenden in der Seminararbeit (z. B. leitfragengestützte, schriftliche Selbsteinschätzung der Wirkungen) und empirische Messung der Effekte (z. B. eigens entwickelte Fragebögen, Videoaufzeichnungen).

(h)  Ggf. verfassen Studierende eine Seminararbeit und reflektieren darin ihren Professionalisierungsprozess mit Bezug auf die Inhalte der Einführungssitzung und der vier Simulationssitzungen, immer belegt mit eigenem Videomaterial.

Praxeologische Einblicke in eine Simulation

Die Simulationspraxis stammt aus dem Seminar „ReliProfi werden“ des Sommersemesters 2021 vom 18.07.2021. Zuvor wurde ganztägig in die Themen Unterrichtsstörungen, Vorurteile sowie Unterrichtsvorbereitung für die Simulationen eingeführt und bereits zwei Mal für ca. vier Stunden simuliert.

Beschreibung: Im Simulationsklassenzimmer (= Studio des Medienlabors der Universität Augsburg) befinden sich insgesamt sieben Personen der Lehrveranstaltung und drei Kameraleute, welche die alle Simulierenden, die Studierende in der Rolle der Lehrperson und die Expertenlehrerin in der Rolle der störenden Schülerin aufnehmen. Alle Personen tragen eine Maske aufgrund der Corona Maßnahmen.

(a)  Das Ergebnis der Vor-Besprechung (Pre-briefing) wird (b) in der Besprechung in die Simulationssituation überführt. Diese sieht folgendermaßen aus: eine Tafel, zwei Tische, an Tisch 1 sitzen Schülerin 3 (Lena, studiert Mittelschullehramt) und Schülerin 4 (Andrea, studiert Mittelschullehramt); an Tisch 2 sitzen Schülerin 1 (Yvonne, Expertenlehrerin aus der Realschule) und Schülerin 2 (Jasmin, studiert Gymnasiallehramt), Lehrerin 1: (Vogt, studiert Grundschullehramt) steht zwischen Tafel und Tisch 1. Hinter der Kamera befinden sich die Dozenten Manfred Riegger und Manfred Negele.

(b)  Besprechung (Briefing): Die Studentin in der Lehrerinnenrolle legte fest: Es handelt sich um Religionsunterricht in einer 3. Klasse Grundschule, Stundenanfang, Thema Hiob (0:10-1:54).

(c)  Videografierte Simulationsübung (Simulation practice):

L1 ((steht seitlich rechts vor der Tafel)): guten morgen, wir machen jetzt reli zusammen. und zwar möchte ich euch heute eine person vorstellen und dazu erzähle ich euch jetzt eine geschichte. wenn du magst, darfst du deine augen zu machen und mir einfach ganz gut zu hören.

[Kre]: ((S1 legt den kopf auf den tisch))

L1 ((liest von einem DIN-A-4-Blatt ab, und sieht kaum auf die Schülerinnen und Schüler)): es lebte einmal ein mann, der den namen hiob trug. hiob war sehr gläubig. er versuchte stets gutes zu tun. er hatte zehn kinder und viel vieh. er war ein reicher mann und seiner familie ging es gut. eines tages geschah es aber. man stahl hiob viel vieh, aber das war noch nicht alles. hiobs kinder waren gerade alle zusammen im haus als ein heftiger wind aufkam. das haus stürzte ein und hiobs kinder starben. (-) hiob war verzweifelt und betete nun zu gott. es kam jedoch noch schlimmer. hiob wurde krank, überall auf seinem körper bildeten sich geschwüre. hiobs frau sagte: verfluche gott, er ist schuld an deinem leid. hiob wollte jedoch nicht schlecht über gott reden. drei freunde hatten gehört, was hiob passiert war. sie beschlossen ihn gemeinsam zu besuchen und ihn zu trösten.

((S1 schmeisst stift auf den boden, steht auf und hebt ihn wieder auf))

((L1 blick zu den schülerinnen))

((schülerinnen malen, schauen umher))

L1: du darfst jetzt wieder deine augen aufmachen.

S2: ich hatte die augen die ganze zeit aufgehabt.

L1: alles gut.

Nach einer Begrüßung kündigt L1 eine Erzählung (vgl. Riegger 2019b, bes. 29-38) an, währenddessen die Schüler:innen ihre Augen schließen dürfen. Tatsächlich ist auf dem Video zu sehen, dass sie einen Text von einem DIN-A-4 Blatt abliest, fast ohne Blickkontakt zu den Schülerinne:n, die die meiste Zeit ihre Augen offen haben. L1 ist so auf ihren Text konzentriert, dass sie vom Verhalten der Lernenden wenig mitbekommt oder wahrnehmen kann. Auch als nach dem Ende des Ablesens S1 gut vernehmlich verkündet, dass sie die ganze Zeit ihre Augen geöffnet hatte, reagiert L1 mit „alles gut“. Eine wechselseitige, aufeinander ausgerichtete Interaktion, ist kaum auszumachen. Es scheint eine Differenz, ein Bruch, zwischen dem Handeln von L1 und den Lernenden vorzuliegen, den L1 nicht wahrnimmt oder wahrnehmen kann. Vielleicht liegt dies am Deutungsrahmen von L1, wie sie Erzählen praktisch umsetzt, denn gängige Erzählprinzipien oder Regeln der Textgestaltung (vgl. ebd., bes. 36f.) sind kaum erkennbar. Dann fragt L1 den Inhalt des abgelesenen Textes ab (2:06-3:02):

L1: was? um was gings in der geschichte? was hast du dir gemerkt? (–) ((S2 meldet sich)) jasmin.

S2:  da gings um den hiob, der war soooo reich, wie hunderttausend leute, der hatte bestimmt geld für zehntausend kugeln schokoladeneis.

L1:  ohja stimmt, das glaub ich auch.

S1:  wie viel ist denn hunderttausend?

L1:  (.)mh, eine ganz große zahl. die haben wir noch gar nicht kennengelernt gell (.) was hast du dir sonst noch gemerkt?  ((S3 meldet sich)) lena.

S3:  erst ging es ihm gut und dann gings ihm schlecht.

L1:  mhm

S3:  weil zehn kinder gestorben sind.

L1:  mhm. genau

S1:  zehn kinder? boah

L1:  wenn du was sagen willst, dann meldest dich.

((S3 tuschelt etwas hinein))

L1:  lena

S1:  also ich bin ganz alleine zuhause, ich habe gar niemanden sonst. da gibt’s nur ein kind.

L1:  lena

S3:  also man hat glaub ich nicht erfahren, warum sie gestorben sind. oder ich habe es nicht gehört, kann man es einfach nochmal lesen?: S1: frau VOOGT? (-)  HALLO?  FRAU VOOGT?

Die Lehrerin steuert unmittelbar die Inhalte der Geschichte an („um was gings“, „was hast du dir gemerkt?“), und lässt die Lernenden nicht frei erzählen, sodass diese die Möglichkeit hätten, ihre Eindrücke zum Ausdruck zu bringen. Inhaltlich wird die biblische Erzählung auf wenige Worte verknappt: „soooo reich“, „erst ging es ihm gut und dann gings ihm schlecht“, „weil zehn kinder gestorben sind“. Dadurch wird das biblische Ereignis so stark reduziert, dass weder die biblisch geschilderte Situation im Religionsunterricht präsent werden kann, noch die Lernenden innere Bilder, mentale Simulationen, entwickeln, die für das Textverstehen notwendig erscheinen. Nach einigen Fragen und Antwortversuchen, fragt S1 (6:18-7:49):

S1:  warum war der nochmal traurig?

L1:  da fragst du jetzt einfach die jasmin.

S2:  weil er seine familie verloren hat. die sind alle gestorben. weil gott hat gesagt, die sollen alle sterben. gott hat die alle getötet. stell dir vor.

S1:  wahnsinn. aber wir haben doch eigentlich gelernt, dass der gott ein lieber gott ist und jetzt ist er ein böser gott?

L1:  jasmin, was erzählst du der yvonne?

S2:  dass gott ja eigentlich böse ist, weil der hat ja von hiob die ganzen kinder getötet. ZEHN kinder. stell dir vor. hat er alle getötet!

Zuerst antwortet S2 erwartbar („weil er seine familie verloren hat“), bevor sie – entwicklungspsychologisch nachvollziehbar – in ihrer Logik schlussfolgert: „gott hat die alle getötet. stell dir vor.“ Trotz einer grundlegenden Grundschulrealistik, könnte sich im simulierten Ausdruck der Gymnasiallehramtsstudentin – durch ihre Schülerrolle ver-rückt – auch ihre habitualisierte Einstellung spiegeln.

(d)  Videografierte Nachbesprechung (De-briefing):

Y:    da geht man gleich voll in der grundschulrolle auf. ((lacht)) unglaublich. sehr gut, haben sie das gemacht. ((berührt ihre sitznachbarin leicht an der schulter))

MR zu Studentin in Lehrerrolle: wie haben sie sich in ihrer rolle erlebt?

V:    ähm (-) ich dachte, dass es besser läuft. ((lacht )) also ich war jetzt eher negativ überrascht, weil ich mir eigentlich dachte, ich war jetzt auf mehrere sachen vorbereitet. auch das mit den schwierigeren wörtern im text, habe ich mir eigentlich vorher überlegt wie man das so erklären kann, aber es kamen eher ganz andere sachen. ich dachte nicht, dass das jetzt aufkommt, warum jetzt schon aufkommt, warum der gott das gemacht hat. dachte ich jetzt nicht, dass das jetzt gleich kommt. genau (-)

MR: wo ging es ihnen gut? in welchen situationen?

V:    (-) am anfang, wo ich vorgelesen habe.

MR: wieso?

V:    weil ich da das gefühl hatte, dass jeder mir zuhört eigentlich (.) und dass bei den Schülern jetzt auch was ankommt (.) und auch wo sie mir dann quasi erzählt haben, um was es in der geschichte ging, hatte ich auch noch ein relativ gutes gefühl, weil ähm, sie es ja eigentlich ganz gut wiedergeben konnten.

MR: mhm also, fragen wir doch ((??)) wie es bei den schülern ankam

Y:    also ich hätte als kind mit elf jahren zehn/elf Jahren überhaupt nichts von dem text verstanden. gar nichts.

V:    ja (.) zu schwierig? (0:03-1:30)

Die Expertenlehrkraft aus der Realschule ging – nach eigener Einschätzung – „voll in der grundschulrolle auf“. Tatsächlich bezieht sie ihre professionellen Fälle aus einer weiterführenden Schulart, in der Anfang der 5. Jahrgangsstufe die Schüler:innen nur ca. 6 Woche von der Grundschulzeit entfernt sind. Ob ihre Simulation typisch für die 3. Jahrgangsstufe ist, sei dahingestellt, sie könnte aber möglich sein. Die Studentin in der Lehrinnenrolle fühlte sich gut vorbereitet in Bezug auf das Erklären schwieriger Wörter, nicht jedoch auf kritische Hinweise der Schülerinnen bezüglich der (Mit-)Verantwortung Gottes für das Geschehen. In Bezug auf die Erzählung rekurriert sie in der Reflexion auf ihr Vorlesen und kaum auf die simulierenden Schüler:innen, die sich auf das konzentrieren, was bei ihnen angekommen ist. Um aus dieser reflektierten Situation Konsequenzen zu ziehen, schlägt der Dozent vor, dass die Studentin die Erzählung frei erzählt. Nach Vorüberlegungen geht es mit einer Klammer markiert (V: „kann ich schon oder? ja“) wieder in die Simulation (4:08-6:15):

(e)  Zweite videografierte Simulationsübung (Simulation practice):

L1:  also ich möchte heute jetzt euch den hiob vorstellen. den seht ihr hier. und der ist ganz reich, der hat ganz viele tiere daheim und der hat auch ganz viele kinder. wie viele kinder hat er denn? zählt mal nach (.) wie viele kinder sind das?

S3: neun

S4: zehn ((S3 zeigt die zahl mit den händen))

L1:  melden ((flüstert)) ((S4 meldet sich))

L1:  andrea.

S4: zehn kinder.

L1:  mhm genau.

S4: ich bin ganz gut in mathe.

L1:  schaut mal wie schaut denn der hiob? ((zeigt auf die tafel und auf das gesicht des mannschgerls)) schaut der freundlich aus oder unglücklich?

S4: jetzt hat der ein eis bekommen ((plappert dazwischen)) ((S2 meldet sich)) ((V zeigt auf das gesicht des manschgerls an der tafel))

S2:  der schaut freundlich aus

L1:  genau (.) der schaut total freundlich und glücklich aus. eines tages wars aber so, dass ihm ganz viele tiere geklaut worden sind, gestohlen worden sind. (.) und dann S1:        welche tiere?

L1:  tiere?

S1:  welche tiere?

L1:  rinder hatte der zum beispiel, oder esel hatte man früher. und dann wars auch noch so, dass eines tages alle seine kinder gestorben sind.

S2:  an was?

L1:  mh. die waren alle in einem haus und dann kam ein großer sturm und dann ist das haus zusammengebrochen und dann sind alle gestorben.

MR: die leben jetzt aber noch oder?

L1:  genau, die müssen wir jetzt wegtun, weil die sind ja alle gestorben. meint ihr, dass der hiob dann immernoch so freundlich war?

S2:  mhm (L1 ändert das tafelbild und nimmt die kinder weg) ((andrea meldet sich))

L1:  andrea.

S4: ne, der war danach nicht mehr so freundlich.

L1:  mhm. magst du mal vorkommen und den so malen wie als wäre er traurig?

S4: kann nicht die lena, das bitte machen?

L1:  wer möchte das machen? (.) mag es niemand machen?

S4: lena macht das. ((lena malt dem mannschgerl ein trauriges gesicht))

L1:  genau. was hast du denn da gemalt? Lena

S3: tränen.

L1:  genau, weil er traurig ist, dann weint er gell. ward ihr schonmal traurig? (-)

S3: mhm

Der Dozent markiert das zeitliche Ende der Simulation [MR: okey (.)] und fragt (6:14-7:15):

(f)   Zweite videografierte Nachbesprechung (De-briefing):

MR: wie ging es ihnen jetzt?

V:    jetzt gings mir besser.

Y:    merken sie das? ((V lacht … )) …

MR: jetzt fragen wir die schüler wieder. wie wars?

Y:    viel besser.

V:    ja.

S2:  fand ich auch, super.

MR: was war besser?

S2:  dass man sich das vorstellen konnte. was da genau passiert ist. veranschaulicht.

A:    genau, würde ich auch sagen. das war jetzt nicht nur dieses vorlesen des textes. man hats wirklich gesehen. der weint da gerade: ja.

A:    mal is er fröhlich, dann auch traurig. Genau

V:    ja stimmt

Die Lehrkraft simulierende Studentin interagiert mit den Lernenden und lässt diese die Situation mitdefinieren („welche tiere?“). Ermöglicht wird dies durch eine strukturell offene Erzählweise. Dadurch scheint die Identität des Unterrichtsinhalts nicht lediglich in einer materiellen Gestalt gesehen zu werden, sondern in der Relation zweier grundlegender Situationen: eines möglichen Modells der biblischen Ur-Situation mit einer möglichen Unterrichtssituation, die in die Unterrichtssimulation als Modell ge-rückt wurde, um Praxis ausprobieren und reflektieren zu können.

Evaluatives Element: Etwa ein halbes Jahr nach Abschluss der Veranstaltung erzählte mir die Studentin in der Rolle der Lehrkraft, dass die von ihr zuerst vorgetragene Geschichte lediglich gegoogled war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass unterrichten so komplex ist, wie sie es in der Simulation erfahren hat. Zeigt sich hier eine beginnende Habitusveränderung?

Lerngelegenheit: Geöffnete Lehr-Lernsituation mit habitusaktivierenden Handlungselementen und Recall Impulsen

Zwar betrachtet man in der Lehrkräftebildung Lerngelegenheiten (vgl. z. B. Blömeke, Kaiser & Lehmann 2010) für Studierende ausführlich, aber weniger geöffnete Lehr-Lernsettings. Analog zum schulischen Unterricht kann man Lehr-Lernsettings im universitären Kontext als geöffnet bezeichnen, wenn den Studierenden Freiräume und (Mit-)Entscheidungsmöglichkeiten in organisatorischer, methodischer, inhaltlicher oder norm- bzw. regelbezogener Dimension gewährt werden (vgl. Bohl & Kucharz 2010). Die Öffnung von Lehr-Lern-Situationen kann Potenziale für positive soziale Beziehungen und Unterrichtsinteraktionen entfalten, insbesondere auf der unterrichtlichen Mikroebene der Kommunikation (vgl. Hauk & Gröschner 2021, Weil u. a. 2020). Die geöffnete Lehr-Lernsituation wird gedanklich vorbereitet, aber v. a. handelnd gestaltet. Somit können handlungsleitende Überzeugungen der Studierenden in der Lehrenden- und der Lernendenrolle aktiviert werden, die anschließend anhand von Recall-Impulsen im Sharing und im Perspektivenwechsel reflektiert werden.

Im Tri-Tandem lehren – Lernen im Wechsel der Rollen und Perspektiven

Lehrkräftebildung wird von handelnden Menschen geprägt. Das ist nicht zufällig, sondern notwendig. Dabei stehen bestimmte Akteure für bestimmte Rollen in der Lehrkräftebildung (z. B. Dozierende und Studierende in der ersten, Lehrende und Referendare in der zweiten Phase) aber auch für die bestimmte inhaltliche Ausgestaltung der Rollen. Es wäre interessant, die mit den Rollen zusammenhängenden systemischen Wirkmechanismen genauer in den Blick zu nehmen: Wie wird beispielsweise Wissenschaftlichkeit von Praktiker:innen aus der Schule, wie die schulische Praxiserfahrung von Dozierenden an der Universität und wie von Studierenden wahrgenommen. Spiegelt sich vielleicht in der Phasenbezeichnung „erste“ und „zweite“ eine unbewusste Wertigkeit? Gehen Dozierende – vielleicht unbewusst – davon aus, dass ihre Aufgabe die primäre ist und Lehrkräfte nur noch sekundär die Anwendung durchführen? Sich gedanklich in die Rollen der je anderen hineinzuversetzen bedeutet: Die Welt aus den Augen des Gegenübers sehen. Das ist ein erster Schritt für wirklichen, gegenseitigen Respekt, denn welche Universitätsdozierenden können sich vorstellen, einen ganzen Tag lang – mit nur wenigen, kurzen Pausen – ihre ausdifferenzierten, wissenschaftlichen Theorien zu vereinfachen, oder ab- vielleicht sogar ausfällige Bemerkungen von Lernenden angemessen zu kontern? Unterricht handelnd aus und in der Rolle des:der anderen auszuprobieren ist dann nochmals intensiver, denn ich erlebe am eigenen Leib, wie andere sich in einer bestimmten Situation fühlen. Ein solches verstehen umfasst mehr als kognitiv nachvollziehbares Wissen. Die Tandemlehre erfolgt zwischen den Universitätsdozierenden durchgängig in gemeinsamer Lehre, in der beide Dozierende sowohl ihr jeweiliges Know-how als auch die Führung situationsspezifisch einbringen (kollaborativ). In den Sitzungen mit Expertenlehrkräften kann sich eine Tri-Tandemlehre entwickeln, in der die ‚Praxisvertreter:innen‘ sich auf Augenhöhe mit den Vertreter:innen der Universität zusammen- und ggf. auch einmal auseinandersetzen. Dem Heterogenitätsansatz verpflichtet, sollten die Expertenlehrkräfte mindestens unterschiedliche Schularten, Geschlechter und Lehrerpersönlichkeiten ‚abdecken‘.

Tandemlehre von Universitätsdozierenden verschiedener Disziplinen

Durchgängig findet der Kurs in Tandemlehre zwischen der Fachwissenschaft Philosophie und der Fachdidaktik Religion statt. Die gemeinsame Entwicklung, Durchführung und Reflexion des Kursangebotes erfordert es, dass die fachwissenschaftlichen Inhalte im Blick auf die Anknüpfungsmöglichkeiten in der schulischen Praxis vereinfacht werden müssen. Da kann schon einmal das Herz der Fachwissenschaftler:innen bluten. Zu erfahren, wie fachwissenschaftliches Wissen von der Praxis angefragt wird, kann dafür eine Entschädigung sein. Aus fachdidaktischer Perspektive kann es zuweilen als anstrengend empfunden werden, wenn Inhalte fachwissenschaftlich bis in die letzten Einzelheiten hinein systematisch erläutert werden wollen. Mögliche Kooperationspartner:innen könnten ebenfalls sein: biblische, systematische und historische Theologie.

Tri-Tandemlehre von Universitätsdozierenden und Expertenlehrkräften

Die Expertenlehrkräfte stellen eine von ihnen im Unterricht umgesetzte Unterrichtskonzeption vor. Sollten dabei den Universitätsdozierenden abwertende Urteile (z. B. fachwissenschaftlich ist das zu ungenau, fachdidaktisch ist das veraltet) äußern wollen, sollten sie sich vergegenwärtigen, dass das Lehrdeputat von Lehrkräften bedeutend höher ist, als ihr eigenes und die vorlesungsfreie Zeit sogar die Schulferien übersteigt. Auf die Perspektive „schulische Expertenlehrkraft Universität“ braucht hier nicht eingegangen zu werden. Der gegenseitige Respekt für die inhaltliche Arbeit des:der je anderen, ist absolut unerlässlich. Nur so können die unterschiedlichen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Inputs in der Vorbereitung der Unterrichtssimulation und bei der Reflexion zu einem wirklichen, vertieften Verstehen führen.

Verknüpfung von universitärem Lern- und schulischem Handlungsfeld

Professionelle Simulation ist ein Konzept, das im Kontext der religionsdidaktischen Lehrkräftebildung entwickelt wurde. Es antwortet auf ein Grundproblem der Lehrkräftebildung: Wie können künftige Lehrkräfte gezielt und effektiv auf die Anforderungen ihres späteren Berufsfeldes mit den Mitteln der ausbildenden Institution – hier der Universität – vorbereitet werden? Die Professionelle Simulation modelliert Anforderungen der schulischen Unterrichtswirklichkeit. In dieser modellhaften Wirklichkeit bewegen sich die Studierenden, bewältigen diese und reflektieren sie, ohne direkte Folgen für die reale Wirklichkeit. Die Reflexion ist dabei – wie schon die Vorbereitung auf die Simulation – nicht nur am Handeln im Berufsfeld orientiert, sondern auch an systematischen, theoretischen Wissensbeständen.

Vernetzung der Lehrkräftebildungsphasen und von theologisch-interdisziplinärem Wissen

Im Unterschied zur rein konsekutiven Abfolge Universität, Seminar, Fort- und Weiterbildung (Ziebertz, Heil, Mendl & Simon 2005, Baumfield 2016) werden in diesem Kurs mit Hilfe der Professionellen Simulation die Lehrkräftebildungsphasen verbunden und integriert, auch in Bezug auf die horizontal-konsekutive Kohärenz theologisch-interdisziplinären Wissens (vgl. Bertram, Reese-Schnitker & Richwien 2024). Bewährte Bausteine einer Verbindung sind an der Universität z. B. Schulpraktische Studien, Fallorientierung oder Forschendes Lernen (vgl. Schneider & Wildt 2009). Die professionelle Simulation setzt noch stärker als die genannten Formen auf die Simultanität von theoretisch fachlichem bzw. fachdidaktischem Wissen, handlungspraktischem Wissen, praktischem Handeln im Berufsfeld und persönlicher Reflexionsfähigkeit. In anderen Ausbildungsrichtungen wie z. B. der medizinischen Ausbildung sind Simulationen verbreiteter Standard. Unser Ansatz nimmt diese Form der Professionalisierung gemäß der Empfehlung des Wissenschaftsrates (vgl. Wissenschaftsrat 2014) auf und etabliert ihn in der Lehrkräftebildung an der Universität.

Lernen durch Erfahrung auf neurowissenschaftlicher Basis

Studierende können ihren professionellen Habitus beim Lernen durch Erfahrung (Riegger 2016) ausbilden, indem sie sich auf ihren Einsatz in der modellhaften Wirklichkeit vorbereiten, darin bewegen, die Anforderungen bewältigen und anschließend reflektieren. So wird es möglich, Prägungen des eigenen professionellen Habitus aufzudecken und zu entwickeln. Beteiligt sind dabei unterschiedliche Gedächtnisformen: Bei der fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und praktischen Vorbereitung das semantische Gedächtnis, während der Simulation das episodische, prozedurale und perzeptuelle, sowie abschließend in der fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und praktischen Reflexion wieder das semantische (vgl. Gold 2009, 78). Außergewöhnlich ist dabei zweierlei: Bewusst und willentlich erinnert werden die kontextlos gespeicherten, generalisierten Kenntnisse über Sachverhalte des semantischen Gedächtnisses (vgl. ebd.) in Verbindung mit den simulierten Lernepisoden der Inhalte des episodischen Gedächtnisses, sodass in einem ähnlichen schulischen Kontext ein Erinnern wahrscheinlicher wird. Neben diesen beiden expliziten und deklarierbaren, d. h. ausdrückbaren und näher bezeichenbaren, Gedächtnisinhalten, sind v. a. während der Simulation auch implizite und nicht verbal ausdrückbare, sondern nur im Handeln sichtbare Gedächtnisinhalte des prozeduralen und perzeptuellen Gedächtnisses beteiligt, die v. a. in der videobasierten Reflexion zugänglich werden können.

Damit Professionalisierungsprozesse gelingen können, sind bestimmte, zeitliche Phasen und grundlegende Bedingungen der Professionellen Simulation notwendig, die oben enthalten sind.

Forschendes Lernen

Schneider und Wildt (2009, 57) postulieren zwischen Forschen und Lernen eine Analogie und entwickeln – auf der Grundlage des Erfahrungslernens nach David A. Kolb – einen Zyklus des Forschens und Lernens (vgl. Mieg 2017, 26), der an öffentlichen Orten (vgl. Jungwirth u. a. 2020) ebenso umsetzbar ist wie in der Theologie (vgl. Reis 2017).

Ausgangspunkt des Lernens ist eine konkrete Erfahrung (1). Aufgrund von Unstimmigkeiten, Widersprüchen oder Unsicherheiten wird diese reflektiert (2). Die Reflexion führt zu einer neuen Deutung der Wirklichkeit, wodurch sich ein neues Konzept bildet (3). Ein verändertes Konzept wird dann im praktischen Handeln überprüft (Experiment) (4), was wieder zu neuen Erfahrungen führt (1), die reflektiert werden (2) usw.

Dieser Zyklus wird in der Professionellen Simulation spezifiziert. Erfahrungslernen wird als Lernen durch Erfahrung nach Wilfried R. Bion verstanden (vgl. Riegger 2016, 5). Die sozialwissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Experimente werden als Simulationsexperiment – ähnlich wie in der Medizin – präzisiert. Konkret bedeutet dies:

Forschend-lernende Studierende identifizieren a) aus der erfahrenen Praxis einer Expertenlehrkraft fachwissenschaftlich, fachdidaktisch und handlungspraktisch relevante Themen (z. B. mögliche Unterrichtsirritationen aufgrund fehlenden fachwissenschaftlichen Wissens), reflektieren den Forschungsstand und formulieren Handlungsmöglichkeiten für die Unterrichtspraxis. Diese werden b) im Emergency Classroom umgesetzt. In der Simulation entscheiden sich forschend-lernende Studierende für mindestens eine Handlung zur Regelung der Unterrichtsirritation. Nach der Simulation einer oder mehrerer Handlungsmöglichkeiten werden diese kommuniziert (c und d). Nach Beendigung der Simulation (e) erfolgt eine reflektierende Auswertung (f), im Blick auf habitualisiertes Professionswissen, habitualisiertes wissenschaftliches Wissen und ggf. im Blick auf berufsbiografisches Wissen, das für entsprechendes Handeln professionell relevant wird.

Damit geht es für die forschend-lernenden Studierenden in unserem Verständnis um einen Zugang zu noch unbekanntem Wissen – wissenschaftliches Wissen ebenso, wie Handlungswissen und auf die eigene Biographie bezogenes Wissen. Professionelle Simulation zielt also – wie Lernen und Forschen – auf die Erweiterung der Handlungs-, Begründungs- und Erklärungsfähigkeit in Bezug auf eine konkrete Fragestellung, womit forschungsorientiertes Lernen (Huber 2014, 24f.) vorliegt.

Verwendung eigener Videos mit wirklichkeitsbasierten Unterrichtssimulationen

Videobasierte Lehr-Lernforschung umfasst unterschiedlichste Verfahren der Dokumentation und Auswertung authentischer Praxis bzw. inszenierter Laborsituationen (vgl. Seidel & Thiel 2017). Unsere produzierten Videos beruhen auf tatsächlichem Unterricht einer Expertenlehrkraft und könnten deshalb als staged Videos verstanden werden. Allerdings werden weder standardisierte (Schauspiel-)Schüler:innen bzw. Lehrpersonen eingesetzt, noch wird der ursprüngliche Unterricht nachgedreht. Vielmehr wird der ursprüngliche Unterricht über die Ausfertigung der Expertenlehrkraft und ihre Erläuterungen präsentiert. Beides liefert die Modellszene für die Simulation, in der die Expertenlehrperson nicht in ‚ihrer Lehrerrolle‘, sondern in einer Schülerrolle und Studierende in der Lehrer- sowie unterschiedlichen Schülerrollen die Unterrichtsmodellszene – mit relativ vielen Freiräumen – simulieren. Damit handelt es sich weder um ein angeleitetes Rollenspiel, noch um eine videobasierte Simulation im klassischen Sinne. Vielleicht könnte man es als experimentelle, unterrichtswirklichkeitsbasierte Simulation bezeichnen, die videografiert wird. Diese unkonventionelle Form der Simulation und des Videomitschnitts hat professionstheoretisch gesehen mindestens einen entscheidenden Vorteil: Sie enthält teilnehmendenbezogenes Handlungswissen, auf das in den Videos Bezug genommen werden kann.

Das angeleitete Videofeedback ist für die Verbesserung unterrichtsbezogenen Handeln berufserfahrener Lehrpersonen eine wirksame Methode (Fukkink u. a. 2011). Wir gehen von einer Wirksamkeit bei studierenden Novizen aus, wenn diese in einem weitgehend geschützten Raum an ‚ihren‘ Berufserfahrungen – ergänzend zur Veranstaltung – arbeiten können. Erwiesen sich Video Stimulated Recall Interviews (Lyle 2003) hilfreich, um das Erleben und die Sichtweisen der Beteiligten in den Lehr-Lern-Prozess einzubinden, gehen wird von der Wirksamkeit gesetzter Recall Impulse aus, welche den Studierenden größere Wahlfreiheiten bieten. In der Religionsdidaktik steht die Erforschung des videobasierten Lernens noch in den Kinderschuhen (vgl. z. B. Bederna 2018, Riegel 2013).

Freude und Selbstwirksamkeit im ‚fehlerfräuntlichen‘ Unterricht

Unterrichtsstörungen und -irritationen erleben Lehrkräften oft bedrohlich und belastend, doch sie können auch als bereichernd und belebend wahrgenommen werden. Wann? Wenn Lehrpersonen Störungen bzw. Irritationen als Chance begreifen, mit entstandenen Unsicherheiten leben lernen und zuversichtlich eine Lösung zu finden versuchen (vgl. ausführlich: Tulis, Steuer & Dresel 2016). Beim Simulieren probiert man mit Unsicherheiten konkret umzugehen. Man macht die Erfahrung trotz Fehlern Unsicherheiten zu bestehen. Das stärkt die innere Sicherheit und Selbstwirksamkeit („Ich schaffe das.“) sowie die Resilienzfähigkeit. Es entsteht ein Vertrauen in sich, in die Lernenden und das, was uns trägt. Vertrauensvoll kann man sich auf das Abenteuer Unterricht einlassen. Dann kann man auch leichter von Idealvorstellungen eines geplanten Unterrichts abweichen und die Unterrichtsvorbereitung an die Unterrichtswirklichkeit anpassen, adaptieren. Die Lehrkraft muss nicht einen Unterricht durchpeitschen, wie sie ihn gerne hätte, oder falsche Sicherheiten durch langweilige Lückentexte und vorgegebene Ausmalbilder herstellen. Es geht nicht um den Absolutheitsanspruch der Lehrkraft, sondern um gemeinsames Handeln aller am Unterricht Beteiligter, mit den je eigenen Stärken und Schwächen. So kann man das Unterrichtsgeschehen akzeptieren, wie es sich entwickelt. Dann besteht die Chance, dass immer wieder im und über den Unterricht Freude aufkommt. Möglicherweise kommt die Freude am guten Unterricht erst dann auf, wenn Lehrkräfte den nächsten Schritt in die richtige Richtung gehen, beim übernächsten Schritt ihre Richtung anpassen, weil die Lernenden den Schritt nicht verstanden haben, oder etwas anderes im Moment für das eigene Leben bedeutungsvoll wird. … Irgendwann lernen alle, was immer besser gelingender Unterricht sein kann. Und mit und hinter den Unterrichtsinhalten lernt man, was immer besser gelingendes Leben für einen selbst ist. Ist das nicht Grund genug zur Freude?

Vielleicht ist der „Der Herr der Ringe“ von John Ronald Reuel Tolkien ein leuchtendes Beispiel für Freude und Selbstwirksamkeit. Erzählt wird von vielen Kämpfen und Helden. Es gibt aber auch die Hobbits Frodo und Sam. Die beiden sind nicht stark, sie kämpfen keine großen Schlachten, sie gehen durch schwere Zeiten, sie verzweifeln oft, machen Fehler und Frodo ist nicht imstande den Ring selbst zu zerstören. Doch die beiden geben nie auf, und am Schluss sind sie die großen kleinen Helden.